JOGI LÖWS ABSCHIEDSSPIEL

Juni 29, 2021    

Mein heutiger Text im Kölner Stadtanzeiger.

In meiner alten Heimat sprechen immer noch alle nur über Christian Eriksen und die dänische Nationalmannschaft. Ich finde es großartig, dass eines meiner Heimatländer mal wieder zeigen konnte, dass „Menschlichkeit“ in Skandinavien nicht nur eine Phrase ist. Trainer, Spieler, aber auch der Verband, haben die Situation bestmöglich gemeistert, nicht nur auf dem Platz, sondern vor allem auch daneben. In diesen Momenten ist der Sport am größten. Wenn er Menschen vereint. Mit dem mitreißenden 4:1 gegen Russland und dem erstaunlichen 4:0 gegen Wales, hat die Sache sogar noch ein sportliches happy end. Sowohl für die dänische Nationalmannschaft im Turnier, als auch für Eriksen, gilt nun dasselbe: Jeder weitere Tag ist ein Geschenk. Carpe diem.

Interessanterweise wurde mir während dieser so emotionalen Tage für die Dänen, nochmal so richtig bewusst, wie wertvoll Löw für Deutschland war. Högschtwahrscheinlich findet heute ja sein letztes Spiel als Bundestrainer statt. So wie die „Mannschaft“ gegen Ungarn und Frankreich gespielt hat, sollte sie gegen die jungen aufstrebenden Engländer nicht viele Chancen haben. Aber man weiß ja nie. Vielleicht gibt es doch noch ein happy end. Ich würde es uns wünschen – vor allem aber Jogi Löw.

Momentan erleben wir eine Hochphase der deutschen Trainer, Klopp, Flick, Tuchel. Wenn die deutschen Trainer gefeiert werden, wird Löw nie erwähnt. Warum nicht? 197 DFB-Spiele, 124 Siege und mehr Unentschieden, als Niederlagen. Da kann nicht mal Franz Beckenbauer mithalten und Masochisten können sich gerne mal an den zwischenzeitlichen Rumpel-Fußball unter Völler, Ribbeck und Vogts zurückerinnern.

Nach so vielen Dienstjahren und mit 82 Millionen Bundestrainern im Nacken, finden sich immer Gründe zur Kritik, zudem folgt mit Flick, ein Trainer, dessen Sympathiewerte und Erfolge, denen von Jürgen Klopp kaum nachstehen. Man hat das Gefühl, dass viele nur darauf warten, dass die Ära Löw endlich endet, darum breche ich jetzt eine Lanze, für einer der besten und erfolgreichsten Bundestrainer, den dieses Land je hatte.

Nach all den Jahren, scheint er ein wenig Motivation und Zugriff auf die Mannschaft verloren zu haben, was bei Trainern ein normaler Verschleiß-Vorgang ist. Er tritt zu spät ab. Trotzdem, oder gerade deswegen, sollten wir die Größe haben, unserem Bundestrainer einen würdigen Abschied zu geben. Lasst uns ihn nicht nur über das heutige Ergebnis oder über die vielleicht doch noch kommenden Spiele bewerten, sondern auch über die softskills, mit denen Löw unser Land all die Jahre präsentiert hat: Höflichkeit, Menschlichkeit, Mitgefühl gegenüber den Besiegten und das Fehlen von Arroganz, im Augenblick der größten Siege. Unvergessen, wie er die deutschen Spieler gegen Brasilien ermahnte, nach dem 5:0 nicht den Gegner lächerlich zu machen. Ich glaube, wir in Deutschland, unterschätzen die Wirkung solcher Gesten. Im Ausland werden sie wahrgenommen. Dort beneidet man uns um „Gentleman Löw.“

Natürlich hat er Fehler gemacht, aber dank seinem Führungsstil mit flachen Hierarchien, hatten wir 2014 die sympathischste Weltmeistermannschaft aller Zeiten – mit dem absolut geilsten WM-Spiel aller Zeiten. Noch in hundert Jahren, werden die Leute von dem 7:1 sprechen. Hätte er nach dem Titel aufgehört, wäre er für immer der größte geblieben. Doch nur weil er weitergemacht hat, und den Umbruch der Mannschaft nicht perfekt hinbekommen hat, sollten wir nicht vergessen, dass Löw die Gesamtsituation, um die Nationalmannschaft komplett neu mitgestaltet hat. Nach Löw, werden die Deutschen nie wieder Defensivfußball akzeptieren.

Die WM 2006 war ein internationaler Gamechanger. Seit dem damaligen Sommermärchen, schaut die Welt anders auf Deutschland, weil Klinsmann und Löw das taten, was man von den Deutschen nicht gewohnt war: Sie ließen wunderbaren Offensivfußball spielen und waren sympathische Gewinner UND Verlierer. Das ist Löw seitdem geblieben. Sein Fußball hat Deutschland im Ausland beliebter gemacht. Ab 2006 lieferte Löw uns 10 tolle Jahre lang, begeisterten und erfolgreichen Fußball. Brasilien in Brasilien auseinandernehmen. Holland in Holland auseinandernehmen. Argentinien und England bei Turnieren auseinandernehmen. Durch alle Qualis mit Rekordergebnissen durchspazieren. Diese fantastischen Spiele und Jahre sollten wir nicht vergessen. Wer weiß, ob wir je wieder Vergleichbares erleben.

Wie das Spiel heute auch immer ausgehen mag, ich wette, Jogi Löw wird mit Anstand auf das Ergebnis reagieren. Wieviel das einem wert ist, kann jeder für sich selbst entscheiden. Für mich ist er mit Herberger, Schön und Beckenbauer, der größte Bundestrainer, den wir je hatten.

In diesem Sinne, danke Jogi! Für all die geilen Offensiv-Spiele, aber vor allem auch für deine menschliche Art. Ich wünsche dir 4 Siege und ein schönes Leben.

Michel Birbæk

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