Tony Bennett RIP

Juli 22, 2023    

Zum Essenmachen habe ich Tony Bennett aufgelegt, der uns erklärt: »The Best Is Yet To Come.« Ihm glaube ich das unbesehen: Ich sah ihn 2014 im Admiralspalast, als er 88 war. Ein denkwürdiger Abend, für den ich 500 Kilometer Anreise in Kauf nahm. Zum Glück, ansonsten hätte ich eines der beeindruckendsten Konzerte des letzten Jahrzehnts verpasst. Alle reden über die Leistungen der Bolts, Messis und Klitschkos dieser Welt, aber wie bewertet man den Einsatz eines 88-jährigen Sängers auf Welttournee?

Als Tony dreizehn war, begann der Zweite Weltkrieg. Als Elvis starb, war er einundfünfzig, bei Sinatras Beerdigung zweiundsiebzig, und noch einmal sechzehn Jahre später kam er nach Berlin. Ich versuchte die Erwartungen runterzuschrauben, aber ich wusste, ich würde mit ihm leiden, wenn er versuchte, die alten Zeiten aufleben zu lassen. Kein Mensch kann mit achtundachtzig das, was er mit dreißig, vierzig oder fünfundfünfzig kann, und ich wollte Tonys Stimme so kraftvoll in Erinnerung behalten, wie ich sie kannte. Anderseits war es vielleicht die letzte Chance, ihn live zu sehen. Der Saal war ein stilvoller Klassiker, genauso wie die Siebzigjährige, die neben mir saß. Sie hatte Bennett bereits neun Mal auf der Bühne gesehen, das erste Mal in der Carnegie Hall, kurz vor meiner Geburt.

Dann begann das Konzert. Tony kam auf die Bühne und lieferte sofort, mit einer wunderbaren, klaren Stimme, die ich ihm nicht mehr zugetraut hatte. Er sang zwar nicht mehr bei jedem Lied das hohe offene Ende aus, aber er gab von Anfang an alles. Ein feines Konzert, tolle Atmosphäre, richtig gute Musiker, schöne Kompositionen und Ansagen aus einer Zeit, als die Ansagen selbst noch ein Stück Kulturgut waren. Nach einem letzten Klassiker ging Bennett von der Bühne, er hatte neunzig Minuten performt. Standing Ovations. Die Siebzigjährige nickte mir mit feuchten Augen zu, während wir applaudierten – unser Tony lebte. Es folgte die erste Zugabe. Die Stimme schon etwas müde, egal, er gab alles. Wir durften seine Grenzen erkennen und liebten ihn dafür, dass er sie nicht versteckte. Dafür standen wir genauso auf wie nach der zweiten und dritten Zugabe. Tony war jetzt zwanzig Minuten über die Zeit, und bei einigen Tonlagen ging ihm jetzt etwas die Puste aus, aber er versteckte sich immer noch nicht. Für seine Haltung bekam er nach der letzten Zugabe im Admiralspalast den emotionalsten stehenden Applaus, den ich jemals erlebt habe. In meinem ganzen Leben. Danach schüttelte er von der Bühne aus Hände. Das Konzert war vorbei, der Abend perfekt zu Ende gegangen, auf dem absoluten emotionalen Höhepunkt. Die ersten Zuschauer gingen bereits, als Tony anzeigte, dass er noch eins singen wollte. Die vierte Zugabe begann, aber irgendetwas störte ihn, er war anscheinend unzufrieden mit dem Sound oder vielleicht auch nur damit, dass ihn manche für sterblich hielten, also legte er das Mikrofon weg … und dann sang dieser Achtundachtzigjährige im Admiralspalast unverstärkt. Auf einmal schien seine Stimme voll da, als hätte die Technik ihn bisher gebremst. Vielleicht war es auch nur seine Urkraft, die jetzt roh und ungebremst herausdurfte. Menschen gingen, Türen klappten, jemand motzte jemanden an, nein, es war nicht leise im Saal, doch vorn am Bühnenrand stand ein Mann, der bereits vierundfünfzig Jahre alt war, als John Lennon starb, und sang aus voller Seele den letzten Song des Abends, als sei es der wichtigste Auftritt seines Lebens. Und dann war es vorbei. Nochmals Standing Ovations, diese dankbar und befriedigt. Tony Bennett ging mit der Band ab, der Saal leerte sich. Alle kamen lächelnd und kopfschüttelnd aus dem Saal, als hätten wir ein Wunder erlebt, und vielleicht hatten wir das ja. Eines der TOP-10-Konzerte meines Lebens.

Auszug aus dem Roman: Das schönste Mädchen der Welt.

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