Tony Bennett. 18/09/2014. Berlin. Admiralspalast.
Als er 13 war, begann der zweite Weltkrieg. Als Elvis starb, war er 51. Bei Sinatras Beerdigung 72 und jetzt, noch mal 16 Jahre später, kam er nach Berlin.
Ich hatte Angst und versuchte mir einzureden, dass ich nur wegen der Reminiszenz hinfuhr. Mir fielen noch mehr Fremdwörter ein, aber die Erwartungen runterzuschrauben änderte nichts: Ich wusste, ich würde mit ihm leiden, wenn er versuchte die alten Zeiten aufleben zu lassen. Kein Mensch kann mit Achtundachtzig das, was er mit Dreißig, Vierzig oder gar Fünfundfünfzig konnte.
Ich höre Tony Bennetts Platten oft und da ist seine Stimme voller Kraft. Ich wollte sie so in Erinnerung behalten. Aber zu Bennetts Songs habe ich schon alles gemacht, was ein Mensch zu Musik machen sollte. Er passt zu jedem Gefühl, jedem Anlass, sogar zu jeder Jahreszeit. Ein Allrounder, der vielleicht sogar an die Oper gehört hätte, aber in der Hochzeit von Swing aufwuchs, und dennoch bis heute ein Jazzer geblieben ist. Er hat mir schon so viel Freude geschenkt, also kaufte ich mir eine Karte und redete mir ein, dass ich ihn einfach mal sehen wollte, solange das noch ging.
Der Saal war ein stilvoller Klassiker, genauso wie die Siebzigjährige, die neben mir saß. Sie hatte Bennett bereits zehn mal live gesehen, das erste Mal in der Carnegie Hall, kurz vor meiner Geburt. Dann begann das Konzert. Tony Bennett kam wunderbar auf die Bühne und lieferte sofort Töne, die ich ihm nicht mehr zugetraut hatte. Als würde er allen zeigen wollen, ich bin noch da. Ich traute dem Braten nicht, doch er machte so weiter, gab von Anfang an alles. Klar, Achtundachtzig. Er transponierte die Songs tiefer, sang nicht mehr bei jedem Lied das hohe offene Ende aus, dennoch, ein feines Konzert, wunderbare Atmosphäre, richtig gute Musiker, schöne Kompositionen und Ansagen aus einer Zeit, als Ansagen noch Kultur waren. Ich genoss den Abend und verdrückte ein Tränchen, als er das letzte Lied sang, das ich mit meinem Vater zusammen gesungen hatte, bevor er starb.
Nach einem letzten Klassiker ging Bennett nach 90 Minuten von der Bühne. Standing Ovations. Ein wirklich schöner Abend. Die Siebzigjährige nickte mir mit nassen Augen zu, während wir applaudierten. Unser Tony lebte.
Dann kam Zugabe eins. Die Stimme schon etwas müde. Egal, er gab alles, wirklich alles. Er schonte niemanden, wir durften seine Grenzen erkennen und liebten ihn dafür, dass er sich uns auslieferte, gosh, wer macht das schon noch mit Achtundachtzig?? Dafür standen wir genauso auf, wie nach Zugabe 2 und dann kam Zugabe 3. Bennett war jetzt 20 Minuten drüber, es ging Richtung zwei Stunden Konzert und bei einem Ton in dieser Zugabe, ging ihm bereits die Puste aus, aber, verdammt, er versteckte sich immer noch nicht. Seine Ehrlichkeit, seine Nacktheit, seine Haltung – dafür bekam er vom Admiralspalast die emotionalste Standing Ovation, die ich jemals erlebt habe.
Danach schüttelte er Hände. Das Konzert war vorbei, der Abend perfekt zu Ende gegangen, auf dem absoluten emotionalen Höhepunkt. Die ersten Zuschauer gingen, doch Bennett zeigte an, dass er noch eins singen wollte. Die vierte Zugabe begann, aber irgendwas störte ihn, er war anscheinend unzufrieden mit dem Sound oder vielleicht auch nur damit, dass ihn manche für sterblich hielten, also legte er das Mikrofon weg…
… und dann besang dieser Achtundachtzigjährige den Admiralspalast unverstärkt.
Auf einmal war seine Stimme wieder voll da, als wäre die Technik sein Feind gewesen, vielleicht war es auch nur die Ur-Kraft seiner Stütze, die jetzt roh und ungebremst heraus durfte. Nein, es war nicht leise im Saal, man hätte keine Stecknadel fallen hören können, Menschen gingen, Türen klappten, jemand motzte jemanden an, doch vorne am Bühnenrand stand ein Mann, der bereits 54 war, als John Lennon vor 34 Jahren starb, und sang aus voller Seele den letzten Song des Abends, als sei es der letzte Auftritt seines Lebens. Ich klammerte mich an die Hand der Siebzigjährigen und wir weinten vor Freude. Und dann war es vorbei.
Nochmals Standing Ovation, diese eher dankbar und befriedigt. Tony Bennett ging mit der Band ab, die Bühne leerte sich, der Saal auch – die Menschen nicht. Viele kamen lächelnd und Kopfschüttelnd aus dem Saal, als hätten sie ein Wunder erlebt und vielleicht hatten wir das ja.
Ich brachte die Siebzigjährige zum Taxi. Bevor sie einstieg, sah sie mich an und sagte: „Danke.“
Mehr Fazit geht nicht.